DFG-gefördertes Deutsch-Ukrainisches Forschungsprojekt startet: Baltische Migranten an der Ostgrenze der Kiewer Rus‘. Der spätwikingerzeitliche archäologische Komplex von Ostriv am Ros’ (Ukraine)

Das einzigartige multiethnische Gräberfeld von Ostriv wurde im Jahr 2017 entdeckt. Es liegt am Ros’, einem Nebenfluss des Dnepr, etwa 80 km südlich von Kyjiw. Hier lag die Grenze der Kiewer Rus‘ zu den Reiternomaden in der Steppe. Die in Ostriv ausgegrabenen Körperbestattungen heben sich in mehrerlei Hinsicht vom Kontext der seit dem späten 10. Jahrhundert christianisierten Rus’ ab: Sie sind Nord-Süd ausgerichtet mit dem Kopf im Norden, wie es auf einigen Nekropolen dieser Zeitstellung weit entfernt im Baltikum üblich ist, und sie führen Beigaben, die typologisch ebenfalls eindeutig ins Baltikum weisen. Dieser außergewöhnliche Befund gab den Anlass für das Pilotprojekt „Baltische Migranten in der Kiewer Rus’“ des Zentrums für Baltische und Skandinavische Archäologie (ZBSA) in Schleswig und des Instituts für Archäologie der Nationale Akademie der Wissenschaften der Ukraine (IA NAWU) in Kyjiw, in dessen Rahmen bis 2020 auf einer Fläche von 1500 m2 mehr als einhundert Körperbestattungen des 10./11. Jahrhunderts ausgegraben wurden. Es wurden erste vergleichende typologische Analysen von Artefakten aus Ostriv und dem Baltikum durchgeführt, sowie Bestattungsriten betrachtet und Schriftquellen des 10.­12. Jahrhunderts gesichtet. Wesentlicher Bestandteil war der Vergleich naturwissenschaftlicher Analysen von Skelettresten und Artefakten aus Ostriv mit Ergebnissen aus Lettland, Litauen und dem Kaliningrader Gebiet Russlands. Den Datierungen zufolge wurde das Gräberfeld von Ostriv während der Herr­schaft Vladimirs (980–1015), der kurzen Rivalität von Svjatopolk von Kiew und Jaroslav (1015–1019) und der langen Herrschaft Jaroslavs (1019–1054) genutzt. Der Krieg mit Polen (1031) sowie mehrere Feldzüge gegen Jadwinger (1038), Litauer (1040) und Masowier (1041) sprechen dafür, dass Jaroslavs außenpolitische Aktivitäten nicht länger auf Byzanz, sondern nun auf den Ostseeraum ausgerichtet waren. Basierend auf dem der­zei­ti­gen Forschungsstand handelt es sich bei der Bevölkerung von Ostriv um Einwanderer aus dem ost­baltischen Raum, die mit der Migrations- und Verteidigungspolitik von Jaroslav dem Weisen in Verbindung zu bringen sind. Damit liefert das Gräberfeld von Ostriv erstmals eine archäo­lo­gische Bestätigung der in der Nestor-Chronik in diesem Kontext geschilderten Handlungen. 

Die Pilotstudie bildet die Grundlage für das nun gestartete dreijährige Forschungsvorhaben, durch das sich die für die untersuchte Zeit seltene Möglichkeit bietet, die in den Schriftquellen dokumentierten Hinweise auf Wechselbeziehungen zwischen indigenen und neu angekommenen Gruppen in der Kiewer Rus’ durch eindeutiges Fundmaterial aus einer archäologischen Perspektive zu betrachten. Das Verhältnis zwischen Einwanderern und Einheimischen berührt hochaktuelle Fragen nach Formen von Mobilität, Migration, Integration und Ethnizität, deren Diskussion durch die Forschungsergebnisse aus Ostriv neuen greifbaren Input erhalten wird. Denn in dem Projekt werden die räumliche Herkunft und der kulturelle Kontext einer archäologisch bezeugten Bestattungsgemeinschaft untersucht. Dadurch ergeben sich Ansätze für die Klärung der möglichen Hintergründe der Migration sowie der Ausgestaltung der Lebensumstände der betreffenden Menschen. Indem umfangreiche naturwissenschaftliche Analysen von Artefakten und Skelettmaterial den archäologisch-historischen Untersuchungen zur Seite gestellt werden, wird ein breiter interdisziplinärer Ansatz unter Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Beiträge verfolgt. Im Rahmen des Projektes werden eigene Feldforschungen durchgeführt, die auch die nahegelegene Siedlung und Befestigung einschließen, archivierte Fundmaterialien ausgewertet und Quellenstudien betrieben. Über den Fundplatz Ostriv hinaus bilden Fragen der militärischen Grenzsicherung der Kiewer Rus‘ gegenüber den nomadischen Steppenvölkern einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt des Vorhabens, der in einer nächsten Projektphase des auf sechs Jahre angelegten Projekts mit dem gesamten Befestigungssystem am Ros‘ stärker in den Vordergrund rücken kann.

Das von PD Dr. Jens Schneeweiß (Exzellenzcluster ROOTS, ZBSA/CAU Kiel) beantragte und geleitete Forschungsvorhaben wird von einem internationalen interdisziplinären Team durchgeführt. Dr. Roman Shiroukhov (ZBSA), der schon maßgeblich an der Pilotstudie mitgewirkt hatte, koordiniert die Forschungen auf deutscher Seite und im Baltikum. Wichtigster ukrainischer Projektpartner ist Dr. Vsevolod Ivakin, dem Vjacheslav Baranov für die Koordination und die archäologischen Feldforschungen zur Seite gestellt ist (beide IA NAWU). Weiterhin direkt an dem Projekt beteiligt sind:

aDNA-Analysen: Prof. Dr. Ben Krause-Kyora (CAU Kiel)

Archäozoologie: PD Dr. Ulrich Schmölcke (ZBSA)

Geophysik: Prof. Dr. Wolfgang Rabbel, Ercan Erkul (CAU Kiel)

GIS-gestützte Auswertung und Modellierung: Dr. Olga Manigda (IA NAWU Kyjiw) unterstützt durch die GIS-Abteilung des ZBSA (Schleswig)

Historische Analysen, Militärgeschichte: Prof. Dr. Matthias Hardt (GWZO Leipzig), Prof. i. R. Dr. Christian Lübke (Berlin), Dr. Thorsten Lemm (ZBSA)

Physische Anthropologie: Dr. Oleksandra Kozak (NAWU Kyjiw), Prof. Dr. Rimantas Jankauskas, Dr. Justyna Kozakaitė (Universität Vilnius)

Radiokohlenstoff- und Isotopenanalyse:  Dr. John Meadows (ZBSA/CAU Kiel)

Strontium-Isotopenanalyse: Prof. Dr. Richard Magdwick, Dr. Katherine French (Universität Cardiff)

Zerstörungsfreie Metallanalysen (FIB, TIM): Prof. Dr. Lorenz Kienle (TEM-Zentrum CAU Kiel)

Als Jens Schneeweiß das Forschungsprojekt im Februar dieses Jahres auf den Weg brachte, hätte das Team es nicht für möglich gehalten, dass der Ausgrabungsort kurz darauf in einem Kriegsgebiet liegen würde. Am 24. Februar 2022 marschierte die russische Armee in die Ukraine ein. Der anhaltende Krieg hat natürlich Auswirkungen auf die Planung und Durchführung des Projekts. Zurzeit ist es unmöglich für die deutschen Wissenschaftler, in die Ukraine zu reisen und dort gemeinsam mit dem ukrainischen Team zu graben. Und die ukrainischen Kollegen ihrerseits dürfen wegen ihrer Wehrfähigkeit nicht ihr Land verlassen. Dennoch haben sie im August die Ausgrabungen wieder aufgenommen, die nun zwar mit deutscher Unterstützung, aber allein vor Ort durchgeführt werden. Die internationale Kooperation und gemeinsame Auswertung läuft derzeit über digitale Kommunikation. Am 26. September fand unter Beteiligung von 12 Wissenschaftlern aus Deutschland und der Ukraine das offizielle Kick-Off-Meeting statt, nicht in Kyjiw, wie eigentlich geplant, sondern im virtuellen Raum. Der Projektstart setzt ein wichtiges Zeichen, denn die wissenschaftliche Kooperation erhält in unsicheren und Krisenzeiten eine besondere kulturpolitische Relevanz. Das Team verbindet damit die Hoffnung, dass in naher Zukunft wieder persönliche Treffen unter friedlichen Bedingungen sowohl in der Ukraine als auch in Deutschland möglich werden. 

Zum Presseartikelin den Schleswiger Nachrichten vom 9.11.2022 > Shz _09-11-2022_print