Juni 2021
Der „Mythos Wiskiauten“ gibt seine Rätsel preis
Annika Sirkin M.A.
Mit dem überaus erfolgreichen Abschluss der Promotion „Studien zur frühmittelalterlichen Siedlungslandschaft im Samland am Beispiel des Fundplatzes Wiskiauten (Mochovoe)“ geht nun das letzte Kapitel zu den Siedlungsuntersuchungen in Wiskiauten/Mochovoe zu Ende. Dieser Fundplatz, im Norden des einst ostpreußischen Samlands (heute Kaliningrader Gebiet, Russland), nur wenige Kilometer von der Ostseeküste und dem lagunenartigen Kurischen Haff gelegen, besitzt eine über 150-jährige Forschungsgeschichte und war vor dem Zweiten Weltkrieg eines der bekanntesten archäologischen Denkmäler des deutschsprachigen Raums.
1865 im Wäldchen Kaup bei Wiskiauten entdeckt, wurde das vornehmlich wikingerzeitliche Gräberfeld mit seinen reichen Beigaben teils skandinavischer, teils prußischer Herkunft und den ca. 500 auffälligen, für die örtlichen Prußen unüblichen Grabhügeln von zahlreichen Altertumsfreunden und Archäologen ausgegraben (s. Projekt von Dr. Chr. Jahn). Die belegte Anwesenheit von Skandinavier:innen im prußischen Raum und dessen vermeintliche Kolonialisierung unterfütterte vorgefertigte Forschungsmeinungen im Sinne des Zeitgeists der ersten Hälfte des 20. Jh., weshalb die Exponate auch in der Ausstellung des Prussia-Museums im Königsberger Schloss bis kurz vor seiner Zerstörung 1945 besonderen Raum erhielten. Die mehrfach diskutierte, zum Gräberfeld gehörige „Kolonie“ selbst wurde allerdings nie gefunden und blieb bis in jüngste Zeit ein Mythos.
Erst 2005 wurde in einem vom ESF, der DFG und RGK finanzierten, deutsch-russischen Kooperationsprojekt ein neuer Versuch genommen, die zum Gräberfeld gehörige Siedlung zu finden, die in der Fachliteratur längst als Seehandelsplatz gilt und mit anderen, wie Haithabu, Birka oder Truso, auf einen Rang gestellt wird. In der interdisziplinären Studie unter der Leitung von Dr. T. Ibsen (ZBSA) wurden bis 2011 rings um das Gräberfeld ca. 155 ha mit der nicht-invasiven Geomagnetikmethode untersucht, knapp 350 Bohrungen (Pürckhauer) zur Analyse geomagnetischer Anomalien und geologischen Voruntersuchung vorgenommen, über 2,1 ha archäologisch ausgegraben, über 36.500 Funde getätigt, 134 Radiokarbonproben zur Altersbestimmung analysiert sowie verschiedene archäozoologische und archäobotanische Analysen ausgeführt. Bereits in der (Link 4) Dissertation des Ausgräbers, Dr. T. Ibsen, die er noch während der Untersuchungen fertigstellte, wurde deutlich, dass sich die Siedlungslandschaft wesentlich komplexer darstellt, als bislang angenommen wurde, was die Fortsetzung der Kampagnen erforderte.
Ab 2016 fand bis 2020 die endgültige Auswertung aller Untersuchungsergebnisse durch A. Sirkin statt (finanziert in Form eines Dissertationsstipendiums der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, im Rahmen des an das ZBSA geknüpfte Akademieprojekt „Forschungskontinuität und Kontinuitätsforschung – Siedlungsarchäologische Grundlagenforschung zur Eisenzeit im Baltikum“). Nach Abschluss aller Auswertungen zeigt sich nun ein überraschendes Bild der Siedlungsvorgänge: Der erwartete Seehandelshafen liegt trotz der reichen und zumindest teilweise als skandinavisch anzusprechenden Bestattungen im Wäldchen Kaup nicht im direkten Umkreis des Gräberfeldes. Vielmehr konnten vier einzelne Siedlungsareale nachgewiesen werden, die – mit Unterbrechungen – teils seit dem Neolithikum bis mindestens Mitte des 11. Jh. bestanden. Es zeichnet sich dabei jedoch klar ab, dass es zur Hauptbelegungsphase des Gräberfeldes (9.–11. Jh.) einen starken Anstieg an Siedlungsaktivitäten und einen Import von Waren aus weit entfernten Kulturräumen gibt, wie etwa dem arabischen, wolgabulgarischen, byzantinischen, karolingischen und später auch zur Rus´. Dies und andere Anzeichen, wie z.B. Belege der Bernsteinperlenproduktion, ein leichter Überschuss in der Fleischproduktion oder eine Akkumulation von Siedlungshinweisen in der weiteren Umgebung, deuten darauf hin, dass diese Siedlungen als eine Art Satelliten zur Versorgung eines Seehandelsplatzes beitrugen. Eine Neuinterpretation der frühmittelalterlichen Küstenverläufe liefert erste Hinweise darauf, wo dieser noch immer zu erwartende Marktplatz liegen könnte.
Um alle Resultate zum Fundplatz Wiskiauten konzentriert vorzulegen, sind für 2022/23 monografische Publikationen von Chr. Jahn zu den vorkriegszeitlichen Ausgrabungen im Gräberfeld Kaup sowie gemeinsam von A. Sirkin und T. Ibsen zu den siedlungsarchäologischen Untersuchen von 2005–2011 geplant, die in der Reihe „Studien zur Siedlungsgeschichte und Archäologie der Ostseegebiete“ erscheinen sollen.
Weitere Informationen:
Projektwebseite Wiskiauten
Annika Sirkin | Centre for Baltic and Scandinavian Archaeology – Academia.edu
Literatur:
IBSEN 2009: T. Ibsen, „Etwa hier die Siedlung“ – Der wikingerzeitliche Fundplatz von Wiskiauten/Mohovoe im Kaliningrader Gebiet im Lichte alter Dokumente und neuer Forschungen.
Dissertation auf Academia.edu
VON ZUR MÜHLEN 1975: B. von zur Mühlen, Die Wikingerfunde in Ostpreußen. In: H. Jankuhn (Hrsg.), Forschungs- und Lehrgemein¬schaft „Das Ahnenerbe“. Bericht über die Kieler Tagung 1939 (Neumünster 1944) 139–153.
SIRKIN 2020: A. Sirkin, Studien zur frühmittelalterlichen Siedlungslandschaft im Samland am Beispiel des Fundplatzes Wiskiauten (Mochovoe) (Dissertation Universität Kiel 2020).