Konfliktbewältigung in kulturellen und territorialen Grenzräumen der slawischen Welt im Mittelalter

Zusammenfassung:
Die übergeordnete Forschungsfrage zielt auf die Identifizierung von Konfliktpotentialen in territorialen und kulturellen Grenzgebieten der slawischen Welt und die wichtigsten Strategien, die zu deren Bewältigung entwickelt wurden. Dabei werden zwei unterschiedliche Schwerpunkte verfolgt. Zum einen werden in zwei Fallstudien Befestigungslandschaften entlang von Flussläufen untersucht, die als Fernhandelswege dienten (Volchov und Daugava, Abb. 1). Hier stehen Konfliktlösungsstrategien im kulturellen Grenzbereich im Mittelpunkt. Konfliktpotentiale ergaben sich aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Sprachen, kultureller Prägungen, Subsistenzstrategien, wirtschaftlicher Interessen. Ausgehend von der Prämisse, dass Konflikte nicht eskalierten, solange alle am Handel beteiligten Parteien zufrieden waren, wird der Frage nachgegangen, inwieweit ein funktionierendes Befestigungssystem für die Aufrechterhaltung des Handels notwendig und nützlich war.

Abb. 1: Lage der Arbeitsgebiete für die Fallstudien beider Teile des Forschungsprojektes (Grafik: J. Schneeweiß).
Abb. 1: Lage der Arbeitsgebiete für die Fallstudien beider Teile des Forschungsprojektes (Grafik: J. Schneeweiß).

Zum anderen konzentrieren sich die Untersuchungen auf eine Siedlungslandschaft im Wendland an der westlichen Peripherie des slawischen Siedlungsraums, die durch eine besondere Dorfform, die so genannten Rundlinge, gekennzeichnet ist (Abb. 1). Ihre Entstehung in der Zeit des mittelalterlichen Landesausbaus steht in engem Zusammenhang mit expansiven Interessen auf deutscher Seite. Am Beispiel des Rundlingsdorfs wird der Hypothese nachgegangen, ob die Siedlungspolitik Heinrichs des Löwen gegenüber den Slawen erfolgreicher war als seine Heerzüge, weil sie auf Deeskalation statt auf Konfrontation setzte.

Projektbeschreibung
„Die Grenze ist der privilegierte Ort für eine raum-zeitlich fundierte Geschichtsschreibung. [Sie] bietet einen Erkenntnispunkt besonderer Qualität. An der Peripherie sieht man anders und anderes als im Zentrum“ [1]

Die Untersuchungen verfolgen als übergeordnete Fragestellung die Identifizierung von Konfliktpotentialen in territorialen und kulturellen Grenzgebieten der slawischen Welt und der wichtigsten Strategien zu deren Bewältigung. Sie konzentrieren sich auf zwei räumlich und zeitlich voneinander getrennte Schwerpunktthemen: a) die kulturelle Grenze zwischen den Ostslawen und den Skandinaviern in der Wikingerzeit und b) die territoriale Grenze zwischen den Westslawen und den Deutschen im Hochmittelalter. Die Erforschung von Konfliktpotenzialen und Lösungsstrategien im Rahmen dieser Fallbeispiele ermöglicht weitreichende Aussagen über die Grenzen der slawischen Welt im Früh- und Hochmittelalter, die bei späterer Abstraktion auf ihr Verallgemeinerungspotenzial hin überprüft werden können.

a) Frühgeschichtliche Burgenlandschaften im östlichen Ostseeraum (Schwerpunkt Wikingerzeit) oder Waräger und Slawen in „Scandoslavia“ – Meister der Konfliktlösung?

Flüsse spielen bei der Erforschung der Vergangenheit eine große Rolle. Sie können vor allem als Kommunikationsadern verstanden werden, insbesondere in Osteuropa, wo sie die Haupttore für die Handelsströme zwischen Skandinavien und dem südlichen und südöstlichen Kontinentaleuropa darstellen. Zwei der wichtigsten Verkehrsadern im östlichen Ostseeraum sind die Flüsse Daugava (Düna) und Volchov (Abb. 1). Im Rahmen von Forschungen zu Konfliktlösungsstrategien in der Vergangenheit, insbesondere in der Wikingerzeit, werden die Befestigungssysteme entlang dieser beiden Flüsse als Fallbeispiele untersucht. Die Ambivalenz von Wikingern und Slawen, die im Früh- und Hochmittelalter als Kaufleute und Krieger, Bauern, Piraten und Diplomaten auftreten, macht sie für die Konfliktforschung besonders interessant.

In der Wikingerzeit (8.-11. Jh.) haben Nordmänner aus Skandinavien (Waräger) die ausgedehnten Flusssysteme Osteuropas als Handelsrouten erschlossen [2-5]. Sie verliefen durch die slawische Welt und verbanden den Ostseeraum mit dem Mittelmeer, dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer. Arabisches Silber wird als eine treibende Kraft hinter dieser Entwicklung gesehen, [6] Sklaven spielten wahrscheinlich auch eine entscheidende Rolle. Eine wikingerzeitliche Elite von Handelskriegern als besonderer Teil der Gesellschaft zeichnete sich durch eine extrem hohe Mobilität aus. Ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg der Nordmänner waren hocheffiziente globale Netzwerke für den Vertrieb der gehandelten Waren. [7] Die Slawen verbreiteten sich zu dieser Zeit über halb Europa und waren mit den Wikingern eng verwoben. Dieser Zeitraum war eine Periode intensiver soziokultureller Entwicklung, die letztlich zur Herausbildung von Staatlichkeit führte. Diese Entwicklung spiegelt sich in mächtigen Kulturschichten mit großem Fundaufkommen in den Zentralplätzen wider. Die genaue Genese dieser oft auffällig dunklen Kulturschichten ist eine eigene Forschungsfrage. Die meisten dieser Plätze wurden jedoch am Ende der Wikingerzeit aufgegeben. In der Regel wurden sie im Laufe ihres Bestehens befestigt, vor allem im 9./10. Jh., als auch im westslawischen Raum zahlreiche Befestigungen errichtet wurden. [8,9] Die konkreten Gründe und Umstände für diesen Prozess sind noch nicht abschließend geklärt, ebenso wenig wie das Verhältnis zwischen Wikingern und Slawen, das in der Literatur kontrovers diskutiert wird. [10] Der Mythos von den Slawen als friedlichen armen Bauern im Gegensatz zu den gewalttätigen Wikingerkriegern hält sich trotz gegenteiliger Belege hartnäckig (Abb. 2).

Abb. 2: Die Ankunft des Warägers Rjurik und seiner Brüder Sineus und Truvor im Jahr 862 in Ladoga nach der „Berufungslegende“ in der Nestor-Chronik. Gemälde des Russischen Malers Viktor Vasnecov (1848-1926) aus dem Jahr 1909 (Wikipedia Commons).
Abb. 2: Die Ankunft des Warägers Rjurik und seiner Brüder Sineus und Truvor im Jahr 862 in Ladoga nach der „Berufungslegende“ in der Nestor-Chronik. Gemälde des Russischen Malers Viktor Vasnecov (1848-1926) aus dem Jahr 1909 (Wikipedia Commons).

Die Untersuchungen des Projekts konzentrieren sich auf Befestigungsanlagen. Es wird davon ausgegangen, dass sie aus vielfältigen Gründen die höchste Dichte an archäologischen Informationen enthalten und daher am besten für das Thema geeignet sind. Die beiden Fallbeispiele entlang der Flüsse Volchov (Russland) und Daugava (Lettland) untersuchen die Entwicklung von spezifischen Burgenlandschaften, um Phasen erhöhter Konfliktbereitschaft von Phasen größerer Stabilität zu unterscheiden. Der Volchov verbindet die Ostsee (über den Ladoga-See und die Newa) mit der Region Novgorod im Becken des Ilmen-Sees als geopolitische Kernregion Nordrusslands. Die bisherige Forschung konzentrierte sich vor allem auf die Zentralplätze am Nord- und Südende des Volchovs: Staraja Ladoga (Abb. 3) und Rjurikovo Gorodišče bei Novgorod. [11,12] Vor dem Hintergrund der slawischen und skandinavischen Besiedlung hatte sich an den Ufern des Flusses sehr wahrscheinlich ein Kommunikationssystem herausgebildet, [13] das auf die Unterhaltung und den Schutz der Handelswasserstraße ausgerichtet war und bis heute kaum untersucht ist. Die Daugava (Düna) nördlich des Neman (Memel) und westlich des Volchov spielt eine herausragende Rolle bei der Verbindung der Ostsee über den Dnjepr mit dem Schwarzen Meer. Etwa 30 Befestigungen entlang des lettischen Flussabschnittes zeugen von der Nutzung und Kontrolle dieser wichtigen Wasserstraße im frühen Mittelalter und in der Wikingerzeit, während die Wurzeln dieses Kommunikationsnetzes entlang der Handelsroute weit in die Vorgeschichte zurückzugehen scheinen. Einige dieser Burganlagen sind umfangreich ausgegraben, etwa die Hälfte ist jedoch noch nicht untersucht. [14–16] Vor allem die Zusammenhänge zwischen Befestigungen und den ihnen zuzuordnenden Orten sind nahezu völlig unbekannt. Ein interdisziplinärer Forschungsansatz aus Archäologie, Geoarchäologie und Linguistik wird helfen, diese zu erschließen sowie spezielle Funktionen einzelner Plätze innerhalb eines Verteidigungssystems aufzudecken.

Die vergleichende Untersuchung zweier unterschiedlicher Gebiete, die beide in der Wikingerzeit eine große Bedeutung besaßen, ermöglicht eine Verallgemeinerung der Erkenntnisse auf theoretisch-methodischer Ebene.

Abb. 3: Rekonstruierte neuzeitliche Festung von Staraja Ladoga an der Einmündung der Ladožka in den Volchov (Foto: J. Schneeweiß).
Abb. 3: Rekonstruierte neuzeitliche Festung von Staraja Ladoga an der Einmündung der Ladožka in den Volchov (Foto: J. Schneeweiß).

b) Die Rundlinge im Hannoverschen Wendland im Kontext des hochmittelalterlichen Landesausbaus (Grenzzone Slawen – Deutsche) oder Die “Rundlinge” – Ausdruck der Deeskalation zwischen Slawen und Deutschen?

Die hochmittelalterliche Ostsiedlung bzw. der Landesausbau veränderte das Verhältnis zwischen Slawen und Deutschen grundlegend. Spätestens nach dem Kreuzzug gegen die Slawen 1147 begann eine Entwicklung, in der das Christentum und das deutsche Rechtssystem auf die slawischen Gebiete östlich von Elbe und Trave ausgedehnt wurden. [17] Entscheidend war vor allem eine geschickte Siedlungspolitik mit gezielter Anwerbung deutscher, niederländischer und anderer Kolonisten. Dies führte zu langfristigen Erfolgen, während ein vorwiegend konfrontativer Kurs zuvor vielfach gescheitert war. Sichtbarer Ausdruck des Landesausbaus war eine veränderte Siedlungslandschaft mit ortsfesten Dörfern, Friedhöfen, Getreidefeldern und Mühlen. Neue Dörfer wurden planmäßig von Grundherren bzw. Lokatoren angelegt. Dafür stand eine Reihe verschiedener Planformen zur Verfügung, z. B. Anger-, Straßen- oder Zeilendörfer, die auch miteinander kombiniert vorkommen. Eine andere Planform aus dieser Zeit ist das Rundlingsdorf. Das sind kleine Siedlungen aus nur wenigen, ungefähr tortenstückförmigen Hofstellen, die im Kreis um einen freien Dorfplatz herum angeordnet sind (Abb. 4). Der zentrale Platz ist gleichzeitig das Ende einer Sackgasse, da es nur einen Zugang zum Dorf gibt. Solche „Rundlinge“ waren im slawisch-deutschen Grenzraum besonders häufig und werden generell mit Slawen in Verbindung gebracht, wobei zahlreiche Details ihrer Genese und Funktion unklar sind. [18] Die Hypothesen reichen von der zwangsweisen Ansiedlung slawischer Kriegsgefangener durch die deutschen Grundherren bis zum freiwilligen Zusammenziehen der ursprünglichen Bewohner, die ihre Einzelsiedlungen in den Niederungen aufgrund steigender Wasserstände verlassen mussten.

Abb. 4: Das Rundlingsdorf Mammoißel im Hannoverschen Wendland (Ldkr. Lüchow-Dannenberg) in einer Luftaufnahme aus dem Jahr 1997 (Wendland-Archiv, ID: 40744).
Abb. 4: Das Rundlingsdorf Mammoißel im Hannoverschen Wendland (Ldkr. Lüchow-Dannenberg) in einer Luftaufnahme aus dem Jahr 1997 (Wendland-Archiv, ID: 40744).

Im Hannoverschen Wendland, einer Region im östlichen Niedersachsen, die schon immer fernab der Metropolregionen lag, haben sich solche Rundlinge in großer Zahl erhalten und prägen dort bis heute das Siedlungsbild. Ihre Ursprünge reichen bis in die Frühzeit des Landesausbaus zurück (Abb. 5–7). Dies wird durch ihre Lage im Grenzgebiet zwischen Slawen und Deutschen unterstrichen. [19] Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, das Phänomen der Rundlinge auch aus der Perspektive der Konfliktforschung zu betrachten, aus der sie als Ausdruck einer neuen, auf Deeskalation ausgerichteten Expansionspolitik gelesen werden können. Das größte Konfliktpotenzial ging von der Christianisierung aus, da sie grundlegende Veränderungen in allen Lebensbereichen verlangte. [20] Es wird der Hypothese nachgegangen, ob die Siedlungspolitik Heinrichs des Löwen gegenüber den Slawen erfolgreicher war als seine Heerzüge, weil sie auf Deeskalation statt auf Konfrontation setzte. Aus dieser Perspektive sind die Rundlinge bisher noch nie untersucht worden.

Literatur

[1] K. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (Frankfurt/Main 32009).
[2] P. Bauduin, Histoire des Vikings. Des invasions à la diaspora (Paris 2019).
[3] Л. С. Клейн, Спор о Варягах (Санкт-Петербург 2009).
[4] P. Bauduin/A. Musin (Hrsg.), Vers l’Orient et vers l’Occident. Regards croisés sur les dynamiques et les transferts culturels des Vikings à la Rous ancienne (Caen 2014).
[5] S. Brink/N. Price, The Viking World (London, New York 2008).
[6] T. Noonan, Why the Vikings came first to Russia. Jahrbücher für Geschichte Osteuropas NF 34 (3), 1986, 321–348.
[7] S. Sindbæk, Networks and Nodal Points. The Emergence of towns in early Viking Scandinavia. Antiquity 81, 2007, 119-132.
[8] J. Henning, A. T. Ruttkay (Hrsg.), Frühmittelalterlicher Burgenbau in Mittel- und Osteuropa (Bonn 1998).
[9] J. Henning (Hrsg.), Europa im 10. Jahrhundert. Archäologie einer Aufbruchszeit (Mainz 2002).
[10] W. Rohrer, Wikinger oder Slawen? Die ethnische Interpretation frühpiastischer Bestattungen mit Waffenbeigabe in der deutschen und polnischen Archäologie. Studien zur Ostmitteleuropaforschung 26 (Marburg 2012).
[11] E. Nosov, Das Novgoroder Land: Das nördliche Ilmenseegebiet und das Volchov-Gebiet. In: N. Makarov (Hrsg.), Die Rus‘ im 9.-10. Jahrhundert. Ein archäologisches Panorama (Hamburg Neumünster 2017) 101–129.
[12] M. Müller-Wille u. a. (Hrsg.), Novgorod. Das mittelalterliche Zentrum und sein Umland im Norden Rußlands (Neumünster 2001).
[13] Е. Н. Носов, Волховский водный путь и поселения конца I тысячелетия н. э., КСИА 164, 1981.
[14] V. Ģinters, Daugmales pilskalna 1936. Gada izrakumi. Senatne un Māksla 4, 1936, 87–195.
[15] J. Graudonis, Nocietinātās apmetnes Daugavas lejtecē (Rīga 1989).
[16] C. von Carnap-Bornheim u. a. (Hrsg.), Lettlands viele Völker. Archäologie der Eisenzeit von Christi Geburt bis zum Jahr 1200 (Zossen 2008).
[17] F. Biermann/G. Mangelsdorf (Hrsg.), Die bäuerliche Ostsiedlung des Mittelalters in Nordostdeutschland. Untersuchungen zum Landesausbau des 12. bis 14. Jahrhunderts im ländlichen Raum. Greifswalder Mitteilungen. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie 7 (Frankfurt/Main 2005).
[18] W. Jürries (Hrsg.), Rundlinge und Slawen. Beiträge zur Rundlingsforschung. Schriftenreihe des Heimatkundlichen Arbeitskreises Lüchow-Dannenberg 16 (Lüchow 2004).
[19] M. Hardt/H. K. Schulze, Altmark und Wendland als deutsch-slawische Kontaktzone. In: R. Schmidt (Hrsg.), Wendland und Altmark in historischer und sprachwissenschaftlicher Sicht (Lüneburg 1992) 1–44.
[20] C. Ehlers, Die Integration Sachsens in das fränkische Reich (751–1024). Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 231 (Göttingen 2007).

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