May 2021

Projekt Goldgreise / Goldblechfiguren

Prof. Dr. Alexandra Pesch

Aus der Sicht einer Solidus-Münze

Das Licht der Welt erblickte ich nach einem wohlgezielten Schlag eines geschickten Münzmeisters im Zentrum der Zivilisation, dem goldenen Konstantinopel. Strahlend lag ich da, frisch poliert, versehen mit den stolzen Zeichen des Kaisers selbst, seinem Abbild und dem Echtgoldzertifikat. Wie mich die Menschen bewunderten! Ich wanderte fortan durch mehrere Hände, allesamt mit schweren Ringen geschmückt und gepflegt – nicht irgendwer berührte mich in meiner Jugend, dieser guten alten Zeit, einer Zeit des Glücks und der Selbstbestimmung. Immer wieder wurde ich in fein beschlagenen Kästchen zur Ruhe gebettet, in feine Tücher gehüllt, umgeben von anderen, ebenso stolzen Solidi. Vollkommen und hochgeschätzt! Aber, für mich völlig unerwartet, dann kam der unfassbare Moment, der Wendepunkt in meinem Leben. Zusammen mit einigen Leidensgenossen wurde ich grob aus meiner Truhe herausgegriffen und in einen Sack gesteckt. Niemand achtete auf unsere Unversehrtheit. Lange baumelte der Sack mit anderem Zeug an einem Pferdesattel, dann in einer Satteltasche, er wurde holterdipolter durchgerüttelt und geworfen, und wir hilflosen Solidi kratzten und verletzten uns dabei gegenseitig. Langsam wurde uns die schreckliche Wahrheit bewusst: Die Barbaren hatten uns erwischt. Entsetzlich! Solche wilden Halunken haben wenig übrig für unseren eigentlichen Wert mit der Bedeutung unserer wunderbaren Zeichen und Bilder, heißt es, sie respektieren weder Kaiser noch Kultur, sie raffen einfach blind an sich, was sie bekommen können. Wochenlang wurden wir so rücksichtslos hin- und hergeschüttelt. Dann endlich warf uns jemand in eine kleine Holztruhe und schloss den Deckel. Es war und blieb dunkel. Für lange Zeit. Nur ganz selten wurde der Deckel angehoben, dann erkannten wir zwei oder drei grinsende Gesichter, die sich über uns beugten, gemein und furchterregend. Wir nahmen es hin; was sollten wir machen? Das Schlimmste stand uns aber noch bevor. Viele, viele Jahre nach unserer Entführung schob sich plötzlich eine Hand in die Kiste und griff mich heraus. Mich, von allen! Endlich wieder am Tageslicht fand ich mich gestrandet in einer traurigen Hüttensiedlung, Holz und Stroh, ärmlich anmutend, ohne feste Straßen und ganz ohne den frischen Glanz der herrlichen römischen Steinarchitektur, die ich gewohnt war. Überall Barbaren, gehüllt in etwas, das in meinen Augen eher Fetzen als echte Kleidung waren – und doch zum Teil behängt mit Gold und dickem Schmuck, wie zum Hohn! Ich wurde in ein dunkles Haus gebracht, ein Loch, halb in der Erde, fensterlos. Barbarische Zustände fürwahr. Und dann: Hefiger Schmerz, Schmerz! Ein Feuer umgab mich, heiß und heißer, angeheizt von unbarmherzigen Blasebälgen, ich konnte mich nicht zusammenhalten – und wurde eingeschmolzen. Brodelnd zerflossen meine Zeichen und Bilder, meine Form, und mit ihnen mein Sinn und mein ganzes altes Leben. Was dann kam, ist mir nur schemenhaft im Gedächtnis. Klatsch, sie gossen mich in eine längliche Form, wo ich in Angst erstarrte. Damit nicht genug: Jemand begann, mit einem großen Hammer auf mich einzuschlagen, immer und immer wieder. Schon ganz flach und mürbe, wurde ich wieder über das Feuer gehalten, und dann wieder und wieder geschlagen, und das alles mehrfach. Bald schnitten sie mich in Teile, das Hämmern und Schlagen ging weiter. Schließlich war von mir nichts mehr übrig als hauchdünne Erinnerungen an das Gold, das ich einmal gewesen war. Diese traurigen Überreste meines Selbst brachten sie dann in ein etwas größeres Holzhaus mit dicken Holzpfosten, wo uns erstmal Ruhe umgab. Aber einige Zeit später kamen weißgekleidete Männer und Frauen. Fackeln und Fahnen wurden geschwungen: offenbar war es ein besonderer Tag. Sie murmelten seltsames Zeug, sangen auch ein bißchen. Zwei jüngere Leute nahmen uns nach und nach auf und drückten uns auf Metallformen, drückten das Metall in uns hinein und verformten uns. Wir realisierten, dass wir mit seltsamen Linien gestempelt wurden, vielleicht Darstellungen von Menschen – diese Barbaren verstanden aber wenig davon, verglichen mit dem Können der Konstantinopler Künstler. Sie zerschnitten dann die gestempelten Bleche in rechteckige Stückchen und sammelten diese in einer Schüssel. Da lagen wir, zerschunden, zu winzigen, fragilen Bildplättchen umgewandelt. Diese Demütigung! Diese Schande! Und worin mag der Sinn dieser komischen Plättchen und ihrer Bilder bestehen? Sie taugen doch zu nichts. Kann mir das vielleicht mal jemand erklären?

Tu-Hügel in Südwestnorwegen
Kalenderblatt Mai 2021: Der markante, die Landschaft Jæren in Südwestnorwegen überragende Tu-Hügel trägt verschiedene Arten eisenzeitlicher Befunde aus mehreren Jahrhunderten. Darunter sind zahlreiche Grabhügel, Steinsetzungen und eine „Tunanlegg“-Gebäudeformation, die für die Funktion des Plateaus als Tingplatz von Bedeutung gewesen sein soll. Südlich des berühmten, mit dem mittelalterlichen Steinkreuz geschmückten „Krosshaug“-Grabes aus dem 5. Jahrhundert lagen am südlichen Hang weitere Grabhügel, aus denen angeblich zwölf Goldblechfiguren stammen. Diese winzigen, hauchdünnen Bildplättchen werden im Rahmen eines interdisziplinären und internationalen Projektes am ZBSA erforscht. Foto: A. Pesch, mit freundlicher Genehmigung des Historischen Museums in Bergen.

Nebenergebnisse und Seitenpfade des Projektes

Das Kalenderblatt für Mai zeigt eine fröhliche Kinderschar, die während eines Schulausflugs eifrig beschäftigt ist: Sie wühlen Steine aus der Erde, wälzen diese herum und stapeln sie freudig zu kleinen Türmchen auf. Das Ereignis wurde im Juni 2018 auf dem idyllischen Tubakken in Jæren (Südwestnorwegen) beobachtet. Dieser markant aufragende Hügel mit seiner weiten Aussicht ist zweifellos ein lohnendes Ausflugsziel, geradezu ein Locus amoenus. Doch an diesem Tag wurde er zum Locus delicti: Denn es sind nicht irgendwelche Steine, die in der Landschaft herumliegen, sondern es handelt es sich um wertvolle archäologische Zeugnisse. Durch das neue Arrangement der Steine wurde insbesondere das berühmte „Krosshaug-Grab“ (Magnus 1975) beschädigt, in dem in der Mitte des 5. Jahrhunderts eine Frau mit reichen Beigaben bestattet worden ist. Es liegt heute unter dem im 11. Jahrhundert darüber errichteten Steinkreuz. Auf irgendwelche Funde wurde bei der Steinwälz-Aktion nicht geachtet. Daher könnten insbesondere sehr kleine Objekte übersehen und schlimmstenfalls zerstört worden sein.

Die Möglichkeit, auf dem auch als Tu/Hauge bekannten Fundort auch nach den Ausgrabungen dort noch kleine archäologische Objekte finden zu können, ist nicht von der Hand zu weisen. Denn 16 Goldblechfiguren (siehe Foto Kalenderblatt) wurden 1897 in unmittelbarer Nähe des sogenannten Tinghaugs („Thing-Hügel“) gefunden, welcher den höchsten Punkt der gesamten Gegend bildet. Für eine praktische Verwendung eigenen sich diese winzigen Stücke nicht, vielmehr deuten sie auf kultische Handlungen hin oder sogar auf einen regelrechten Kultplatz. Der Tubakken trägt aber auch viele weitere Monumente, etwa zahlreiche größere und kleinere Grabhügel und Steinsetzungen, und nicht zuletzt eine im Gelände noch gut sichtbare, ovale angeordnete Formation kleiner Häuser (Tunanlegg „Dusjane“), möglicherweise die Überreste eines saisonal genutzten Thingplatzes der Roman Iron Age. Bis zur ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts ist der Tubakken sicherlich ein bedeutender zentraler Ort gewesen, der im Zusammenhang mit den politischen Eliten eines größeren Umfeldes gesehen werden muss (Kristoffersen/Nitter/Solheim 2014). Die Goldblechfiguren stammen aber aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, sind also jünger als die bisher genannten Befunde. Sie überbrücken die Zeit zur hochmittelalterlichen Nutzung des Platzes als Versammlungsort unter dem frühen christlichen Steinkreuz.

Abb. 1: Historisches Foto von Goldfolienfiguren im Dänischen Nationalmuseum, von denen einige (unten links) aus Norwegen stammen und den Funden aus Tubakken ähneln. Foto: Nachlass Hauck, Schleswig.
Abb. 1: Historisches Foto von Goldfolienfiguren im Dänischen Nationalmuseum, von denen einige (unten links) aus Norwegen stammen und den Funden aus Tubakken ähneln. Foto: Nachlass Hauck, Schleswig.

Dass ein und derselbe Platz über so viele Jahrhunderte Bedeutung hatte, ist nicht selbstverständlich. Bei vielen anderen skandinavischen Stätten ist insbesondere im Laufe des 5. Jahrhunderts ein Kontinuitätsbruch erkennbar: Der Wandel zwischen der Völkerwanderungszeit und der anschließenden Vendelzeit wird vielerorts durch einen Siedlungsabbruch markiert sowie das Aufkommen ganz neuartiger Befunde, darunter auch Wohnformen, Objektarten und Gräber. Auch die Goldblechfiguren scheinen, jedenfalls in ihrem massenhaften Auftreten und den typischen Formen, eine Erfindung des späten 6. Jahrhunderts zu sein. Was also bewirkte diese extremen Veränderungen?

Offenbar war das 6. Jahrhundert in Nordeuropa geprägt durch die Folgen einer Klimakrise. Gewaltige Vulkanausbrüche in Äquatornähe hatten mit ihren Auswürfen von Aschen und Schwefelsäuren im Jahre 536 einen Staubschleier erzeugt, der das Sonnenlicht zum großen Teil verdunkelte. Dieses inzwischen weltweit gemessene und interdisziplinär erforschte Ereignis, auch „Late Antique Little Ice Age“ oder kurz „LALIA-event“ genannt (Büntgen et al. 2016), hatte tiefgreifende Folgen: ausfallende Sommer, Missernten, Hungersnöte und kriegerische Auseinandersetzungen sind nicht nur naturwissenschaftlich belegt, sondern auch historisch überliefert. Schilderungen liegen beispielsweise aus England vor, ausführlichere Texte aus dem Mittelmeerraum. Dort bezeugen Schriftquellen nicht nur Not und Verzweiflung, sondern auch das Aufkommen der sogenannten Justinianischen Pest, einer tödlichen Pandemie, die wenige Jahre später unter den geschwächten Menschen wütete und in kurzer Zeit zigtausende Opfer fand. Inzwischen wurden Pesttote in Gräbern auch in Süddeutschland nachgewiesen, und viele weitere archäologische Befunde und Indizien konnten zusammengetragen werden. Heute wissen wir, dass nach den Katastrophenjahren die politischen Karten praktisch auf der ganzen Welt neu gemischt worden sind.

Abb. 2: Ein Staubschleier verdeckt das Sonnenlicht. Foto: A. Pesch.
Abb. 2: Ein Staubschleier verdeckt das Sonnenlicht. Foto: A. Pesch.

Auf der Nordhalbkugel und insbesondere in Nordeuropa scheinen sich die Staubschleier deutlich länger gehalten zu haben als im Mittelmeerraum. Welche Auswirkungen das nicht nur auf den Lebenserwerb der Menschen in der Landwirtschaft, sondern auch auf ihre religiösen Ansichten gehabt haben mag, lässt sich aufgrund des Fehlens dortiger Schriftquellen nur archäologisch erforschen. Die Veränderungen in den Krisenzeiten und danach sind auffällig, der kulturelle Umbruch ist enorm und durch viele archäologische Zeugnisse nachgewiesen (Axboe 1999, 2001; Høilund Nielsen 2005, 2015; Gräslund 2007; Zachrisson 2011; Löwenborg 2012; Gräslund/Price 2012). Auch die Goldblechfiguren können als Zeugnisse einer neuen Religionspraxis in der Zeit nach dem Ereignis verstanden werden. Die winzigen, dafür aber in großen Mengen auf bestimmten Plätzen hergestellten und verwendeten Bilder zeigen vermutlich vielfach Szenen aus dem Bereich der neuen Kultpraxis selbst. Mit ihrer Ikonographie, die trotz aller Neuerungen auch in der Völkerwanderungszeit wurzelt, sind sie aber auch Zeugen eines kulturellen Überlebens der Menschen des Nordens.

Das ZBSA-Projekt wird sich in seiner nächsten Phase mit den archäologischen Befunden und ihrer Stratigraphie aus alten und neuen Ausgrabungen befassen. Dazu gehört auch der Tubakken in Norwegen. Wir erhoffen uns durch Recherchen und einen für 2022/23 geplanten Workshop mit internationalen geladenen Experten Antworten auf Fragen der genauen Datierung, aber auch Herstellung und vor allem der konkreten Verwendung der winzigen Bildbleche in den verschiedenen Zeiten und den Regionen ihrer Verbreitung.

Literatur

  • Axboe 1999: Morten Axboe, The Year 536 and the Scandinavian Gold Hoards. In: Medieval Archaeology XLIII, 1999, 186-188.
  • Axboe 2001: Morten Axboe, Amulet pendants and a darkened sun. In: Roman Gold and the Development of the Early Germanic Kingdoms. Aspects of technical, socio-political, socio-economic, artistic and intellectual development, A.D. I–550. Symposium in Stockholm 1997, ed. Bente Magnus (KVHAA Konferencer 51). Stockholm 2001, 119-135.
  • Gräslund 2007: Bo Gräslund, Fimbulvintern, Ragnarök och klimatkrisen år 536-537 e.Kr. In: Saga och Sed 2007, 2007, S. 93-123.
  • Gräslund/Price 2012: Bo Gräslund, Neil Price, Twilight of the Gods? The ’dust veil Event’ of AD 536 in critical perspective In: Antiquity 2012, 420-442.
  • Gunn, Joel D. (ed.) 2000: The Years without Summer. Tracing A.D. 536 and its Aftermath (BAR International Series 872). Oxford 2000.
  • Gutsmidl-Schümann et al. 2018: Doris Gutsmidl-Schümann, Bernd Päffgen, Heiner Schwarzberg, Marcel Keller, Andreas Rott, Michaela Harbeck, Digging up the plague: A diachronic comparison of aDNA confirmed plague burials and associated burial customs in Germany. In: Praehistorische Zeitschrift 92(2), 2018, 405-427.
  • Høilund Nielsen 2005: Karen Høilund Nielsen, “The sun was darkened by day and the moon by night… there was distress among men…”. In: Neue Forschungsergebnisse zur nordwesteuropäischen Frühgeschichte, Hg. Hans-Jürgen Häßler (= Studien zur Sachsenforschung 15). Oldenburg 2005, 247–286.
  • Høilund Nielsen 2015: Karen Høilund Nielsen, Endzeiterwartung – expecting the End of the World. In: Neue Studien zur Sachsenforschung 5, 2015, 23-50.
  • Kristoffersen/Nitter/Solheim 2014: Elna Siv Kristoffersen, Marianne Nitter, Einar Solheim (Eds.), Et Akropolis på Jæren? Tinghaugplatået gjennom jernalderen (AmS-Varia 55). Stavanger 2014.
  • Löwenborg 2012: Daniel Löwenborg, An Iron Age Shock Doctrine – Did the 536-7 event trigger large-scale social changes in the Mälaren valley area? In: Journal of Archaeology and Ancient History (JAAH) 2012/4, 2012, 3-29.
  • Magnus 1975: Bente Magnus, Krosshaugfunnet. Et forsøk på kronologisk og stilhistorisk plassering i 5. årh. (Stavanger Museums skrifter 9). Stavanger 1975.
  • Zachrisson 2011: Torun Zachrisson, Property and Honour – Social Change in Central Sweden 20-700 AD Mirrored in the Area around Old Uppsala. In: Arkæologi i Slesvig – Archäologie in Schleswig. Sonderband „Det 61. Internationale Sachsensymposion 2010, Haderslev, Danmark. Neumünster 2011, 141-156.

Veröffentlichungen zu diesem Projekt

Pesch/Helmbrecht (eds.) 2019: Gold foil figures in focus. A Scandinavian find group and related objects and images from ancient and medieval Europe. Papers presented at an international and interdisciplinary workshop organized by the Centre for Baltic and Scandinavian Archaeology (ZBSA) Schleswig, October 23rd to 25th, 2017. Advanced studies in ancient iconography 1, eds.: Alexandra Pesch, Michaela Helmbrecht (Schriften des Museums für Archäologie, Ergänzungsreihe 14). München 2019.

Pesch/Helmbrecht 2021: Alexandra Pesch, Michaela Helmbrecht, Gold foil figures as evidence for cultural surviving. In: Torun Zachrisson, Svante Fischer (eds.), Climate Change and Transformation (Neue Studien zur Sachsenforschung 69). 2021, in peer review process.

Pdfs zum Herunterladen bzw. Links:

Flyer zum Buch „Gold foil figures in focus“ 2019
Herunterladen des Synthese-Kapitels
Buch-Rezension von Neil Price
Buch-Rezension (von Kent Otte Laursen)