Dezember 2021
Zum Schießen…
Dr. Sonja Grimm
Was ist das zentrale Alleinstellungsmerkmal von uns Menschen unter den großen Menschenaffen und frühen Hominiden, das zur Entwicklung hin zum modernen Mensch führte? Diese Frage wurde intensiv um die Mitte des 20. Jahrhunderts in der Archäologie und Anthropologie diskutiert. Neben dem aufrechten Gang und der Fähigkeit Werkzeuge zu schaffen (Oakley 1950) wurde insbesondere die Jagd als wesentlicher Entwicklungsschritt im menschlichen Verhalten angeführt (Lee & DeVore 1968). Zwar wissen wir mittlerweile, dass auch Menschenaffen jagen und sich dafür teilweise auch bewaffnen (Pruetz & Bertolani 2007), doch allein Menschen gleichen ihre körperlichen Defizite dafür mit Distanzwaffen aus. In Europa sind Speere als Hilfsmittel bei der Pferdejagd bereits vor ca. 300.000 Jahren von der Fundstelle Schöningen belegt (Schoch et al. 2015). Diese wurden noch mit Muskelkraft auf die Beutetiere geworfen. Erst seit etwa 19.000 Jahren gibt es in Europa Belege für Speerschleudern (Atlatl; Cattelain 2016), die den menschlichen Arm verlängern und so eine höhere Präzision bzw. eine stärkere Durchschlagskraft ermöglichen (Stodiek 1993).
Wo und wann genau Pfeil und Bogen aufkamen, ist unklar (vgl. Junkmanns 2013; Paulsen 2013), doch die ältesten sicheren Belege stammen vom Fundplatz Stellmoor bei Ahrensburg (Fig. 1). Hier fand Alfred Rust Mitte der 1930er Jahre im Schichtenpaket der so genannten Ahrensburger Kultur die bis heute ältesten Holzpfeile der Welt (Rust 1943). Diese Schichten werden anhand von Pollenanalysen (Krüger 2020) und Radiokohlenstoffdatierungen (Weber et al. 2011) an den Übergang von der letzten Kaltzeit (Jüngere Dryas) zu unserer heutigen Warmzeit (Holozän) datiert, also in eine Zeit vor etwa 11.700 Jahren.
Welche Form der Beschleunigung in der Hamburger Kultur, der ersten Welle der (Wieder-) Besiedlung in Norddeutschland (ca. 14.950-13.850 Jahre vor heute), genutzt wurde, ist nicht gesichert, doch erscheint eine Nutzung der Speerschleuder am wahrscheinlichsten (Weber 2012). In der Zeit der weit verbreiteten Federmesser-Gruppen (vor ca. 14.000 -12.850 Jahren) wurde aufgrund der kleinen Steinspitzen und dem bereits regelmäßigen Vorkommen von Pfeilschaftglättern die Nutzung von Pfeil und Bogen als wahrscheinlich angenommen. Während dieser Zeit breiteten sich auch lichte Wälder über weite Teile des Nordens aus. Allerdings sind die frühen Federmesser (gebogene Steinspitzen) in Norddeutschland zum Teil noch sehr groß und Funde von Pfeilschaftglättern selten. Wurden hier also weiter Speere genutzt? Erst für die Zeit der Ahrensburger Kultur (ca. 13.000-11.200 Jahre vor heute) können wir durch die Funde vom Stellmoor die Nutzung von Pfeil und Bogen sicher belegen. Allerdings stammen diese Stücke aus der Spätphase – so wissen wir nicht, wie in der frühen Ahrensburger Kultur Projektile abgefeuert wurden.
Laut Rust waren diese Pfeile vom Fundplatz Stellmoor aus Kiefernholz gefertigt, einem Rohstoff, der heute eher nicht mit dem Bogen- und Pfeilbau in Verbindung gebracht wird. Allerdings waren Bäume während der Jüngeren Dryas eher selten hier im Norden anzutreffen, so dass die wenigen vorhandenen Arten wohl auch genutzt wurden. Ein weiterer interessanter Aspekt dieser Pfeile ist, dass es sich bereits um Kompositgeräte, also aus mehreren Teilen zusammengesetzte Stücke, handelt. Dies betrifft nicht nur die Anbringung einer Pfeilspitze auf einem Holzschaft, sondern auch den Schaft selbst, der aus verschiedenen Holzstücken zusammengesetzt wurde. So wiesen einige der in Stellmoor gefundenen Stücke Steckverbindungen auf (Fig. 2).
Diese Bestandteile wurden wahrscheinlich mit Sehnen straff umspannt, um sie zusammenzuhalten und eine präzise Flugbahn beizubehalten. Diese Komposittechnik ist wohl der Knappheit des Rohstoffes Holz geschuldet. So konnte der lange Hauptschaft abknicken, abfallen und wieder eingesammelt werden, während nur der Vorschaft mit der Steinspitze verloren ging, wenn z.B. ein Tier nicht tödlich getroffen war und entkommen konnte. Es ist kaum vorstellbar, dass die Entwicklung von Pfeil und Bogen mit Kompositpfeilen begonnen hat, weshalb anzunehmen ist, dass das technische Wissen sehr viel älter ist. Als Indizien wurden sowohl raue Steingeräte mit einer Rille, sogenannte Pfeilschaftglätter, als auch sehr kleine Steinspitzen gesehen (Junkmanns 2013).
In Stellmoor waren in drei Schaftfragmenten noch Fragmente von Steinspitzen erhalten (Fig. 1). Bei diesen Fragmenten handelt es sich wohl um Stiele von kleinen lithischen Pfeilspitzen. Diese Stücke werden als Ahrensburger Stielspitzen bezeichnet (Fig. 3). Diese Form kleiner lithischer Spitzen ist aus dem ganzen norddeutschen Raum bis in die angrenzenden Mittelgebirge bekannt (wie dem Hohle Stein bei Kallenhardt in Westfalen, dem Kartstein in der Eifel und auch dem belgischen Remouchamps; Baales 1996). Vereinzelt treten sie auch in Dänemark (Petersen & Johansen 1993) und Polen auf (Winkler 2019). Auf dem Stellmoor-Hügel sollen laut Rust tausende dieser Spitzen gefunden worden sein und tatsächlich finden sich in der Sammlung von G. Rughase noch über 300 dieser und kleiner einfacher, mikrolithischer Spitzen, so genannter Zonhoven-Spitzen.
Die Holzartefakte aus Stellmoor gingen fast alle während des 2. Weltkrieges verloren, doch wurden 2013 im Nachlass von Alfred Rust noch Holzfragmente entdeckt. Bei einem der bearbeiteten Stücke handelt es sich wahrscheinlich um ein Pfeilfragment aus Stellmoor, da es vom Durchmesser vergleichbar ist und ein typisch gegabeltes Ende aufweist (Hartz et al. 2019; Fig. 4). Die Datierung erwies sich aufgrund der Konservierung mit pflanzlichen Ölen und Harz als schwierig, doch ergab eine Probe aus reiner Zellulose letztlich ein Alter, das den bisher bekannten Ergebnissen aus den Ahrensburger Schichten von Stellmoor gleicht (Meadows et al. 2018).
Da die vollständigen Pfeile selbst also nicht mehr untersucht werden können, sind Rekonstruktionen (Fig. 2) schon seit Jahrzehnten eine gute Art sich den Eigenschaften dieser frühen Projektile zu nähern. Zudem haben sich weitere Details, wie die Umwicklung oder Verklebung dieser Verbindungen bzw. der Steinspitze, und die Befiederung nicht erhalten. Schussversuche mit solchen rekonstruierten Pfeilen zeigten deutlich, dass die kleinen Stielspitzen auch beim Aufprall in tierisches Gewebe verloren gehen oder gar zerstört werden können (Fig. 5). Jedoch sind diese für geübte Steinschläger fast schon seriell sehr schnell aus geraden und regelmäßigen Klingen herzustellen, wie sie vielfach aus Inventaren der Ahrensburger Kultur belegt sind. Da auch qualitativ guter Feuerstein in weiten Teilen Schleswig-Holsteins zu finden ist, stellen diese kleinen Steinspitzen also keine seltene, schwer zu beschaffende oder herzustellende Ressource dar, deren Verlust somit kaum ein Problem für die eiszeitlichen Jäger bedeutete.
Wie auch Kollegen in Dänemark (Fischer et al. 1984), unternahmen Klaus Bokelmann und Harm Paulsen bereits in den 1980er Jahren Schussversuche mit nachgebauten Ahrensburger Pfeilen. Besonders Harm Paulsen unternahm viele weitere Experimente mit unterschiedlichen Zielsetzungen und gemeinsam mit verschiedenen Kollegen, wie z.B. Mara Weber, Thomas Terberger oder auch Markus Wild. Zurzeit läuft zudem ein filmisch dokumentiertes Experiment, das die Ahrensburger Pfeile bzw. einen passenden Bogen in den Fokus nimmt (https://museum-fuer-archaeologie.de/de/filmprojekt-pfeil-sucht-bogen–das-ahrensburger-steinzeitexperiment).
Aufbauend auf dieser jahrzehntelangen Expertise wollen auch wir in den nächsten Jahren weitere Experimente zu spätglazialen Projektilen durchführen. Diese basieren wir vor allem auf Fragestellungen, die sich aus den Funden von Steinspitzen ergeben.
Literatur
Baales, M., 1996. Umwelt und Jagdökonomie der Ahrensburger Rentierjäger im Mittelgebirge. Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 38. Bonn: Habelt.
Cattelain, P. 2016. Les propulseurs du Magdalénien moyen ancien et apparentés. In: Bourdier, C., Chehmana, L., Malgarini, R., Połtowicz-Bobak, M. (eds.). L’essor du Magdalénien. Aspects culturels, symboliques et techniques des faciès à Navettes et à Lussac-Angles. Actes de la séance de la Société préhistorique française de Besançon, 17-19 octobre 2013 (pp. 235-247). Paris: Société préhistorique française.
Fischer, A., Hansen, P. V., Rasmussen, P., 1984. Macro and micro wear traces on lithic projectile points. Journal of Danish Archaeology 3, 19-46.
Hartz, S., Weber, M.-J., Meadows, J., Klooß, S. 2019. One in a hundred – the rediscovery of a potential arrow shaft from Stellmoor (Schleswig-Holstein, Northern Germany). In: Eriksen, B.V., Rensink, E., Harris, S. (eds.). The Final Palaeolithic of Northern Eurasia. Proceedings of the Amersfoort, Schleswig and Burgos UISPP Commission Meetings. (pp. 155-168). Schleswig: Ludwig.
Junkmanns, J., 2001. Pfeil und Bogen: Herstellung und Gebrauch in der Jungsteinzeit. Biel: Museum Schwab.
Krüger, S., 2020. Of birches, smoke and reindeer dung – tracing human-environmental interactions palynologically in sediments from the Nahe palaeolake. Journal of Archaeological Sciences: Reports 32, 102370. https://doi.org/10.1016/j.jasrep.2020.102370
Lee, R. B., DeVore, I., 1968 (eds.). Man the hunter. The first intensive survey of a single, crucial stage of human develöoment – man’s once universal hunting way of life. Chicago, London: Aldine Publishing Co.
Meadows, J., Heron, C., Hüls, M., Philippsen, B., Weber, M.-J. 2018. Dating the lost arrow shafts from Stellmoor (Schleswig-Holstein, Germany). Quartär 65, 105-114.
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Stodiek, U. 1993. Zur Technologie der jungpaläolithischen Speerschleuder: Eine Studie auf der Basis archäologischer, ethnologischer und experimenteller Erkenntnisse. Dissertation Universität zu Köln, 1992. Tübinger Monographien zur Urgeschichte 9. Tübingen: Verlag Archaeologica Venatoria.
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