März 2021
Braunbär und Mensch – Stimmungsbilder einer Jahrtausende langen Beziehung
Ulrich Schmölcke
Braunbären sind die größten Landsäugetiere Europas und gleichzeitig für den Menschen zumindest potenziell gefährlich. Es ist daher wenig erstaunlich, dass sich zwischen beiden Arten – Mensch und Bär – sehr spezielle, wechselvolle Beziehungen entwickelten. Im Rahmen des Forschungsschwerpunkt „Jagd- und Fischereigeschichte“ erforschen wir am ZBSA gemeinsam mit Forschenden anderer Disziplinen unterschiedliche Aspekte dieser Verhältnisses. Dabei überspannen wir 15 Jahrtausende und den gesamten nordeuropäischen Raum.
Bären leben heute in freier Wildbahn in mehreren Nachbarstaaten, in Deutschland aber hat das erste Tier, das sich 2006 fast 250 Jahre nach dem Aussterben der Art zu uns verirrte, nur wenige Wochen überlebt. Als Stofftier oder auf Flaggen und Wappen sind Braunbären bei uns gern gesehen, in der Natur jedoch eher weniger.
Die offenbar in Deutschland weiterhin tief verwurzelte Furcht vor dem Bären ist uralt und spiegelt sich sogar in seinem Namen: In fast allen indoeuropäischen Sprachen geht der Name der Tiers auf einen Wortstamm zurück, der ‚Brauner‘ oder ‚braunes Tier‘ bedeutet. Durch Gebrauch solcher Metonyme vermeidet man, den Namen eines potentiell gefährlichen oder gefürchteten Wesens explizit auszusprechen. In der Vorstellung der (prähistorischen) Menschen wird sich ein Bär, der hört, dass Menschen über ‚den Braunen‘ sprechen, nicht angesprochen fühlen und einfach weiter seines Weges gehen.
Als Teil unserer Bärenforschung haben wir in den letzten Monaten unter anderem die Geschichte des Braunbären im norddeutschen Tiefland untersucht. Es zeigt sich, dass sich hier die Bedeutung und Relevanz des Bären seit den Steinzeiten mehrfach und grundlegend geändert hat. Die Seltenheit von Bärenresten in mesolithischen und neolithischen Knochenfunden deutet darauf hin, dass die steinzeitlichen Menschen kein Interesse an der Bärenjagd hatten, weder aus spirituellen noch aus profanen Gründen. Später dagegen, in der vorrömischen und römischen Eisenzeit, finden wir Bärenklauen recht regelmäßig in Bestattungskontexten. Hier zeigt sich eine neue Rolle, möglicherweise als Mediator zwischen Diesseits und Jenseits, und die hatte nicht nur eine kulturelle und religiöse Bedeutung, sondern muss auch eine größere Nachfrage nach Bärenprodukten und eine damit eine verstärkte Jagd ausgelöst haben. Noch ist Spekulation, ob diese Jagd nur bestimmen Bevölkerungsgruppen vorbehalten war und ob sie im Vorfeld oder Nachgang spezielle Rituale erforderte. Beides kennen wir aus der Ethnologie.
Während der römischen Kaiserzeit kann man vermuten, dass die Jagd auf Wildtiere generell von höchst untergeordnetem Interesse war. Die Konstanz der Bärenfunde auf archäologischen Fundplätzen aus ist in dieser Zeit sehr niedrig, was zeigt, dass Bärenjagd definitiv nicht üblich war. Dies gilt vor allem für die westliche Hälfte des norddeutschen Tieflandes, während östlich der Elbe die Bärenfunde regelmäßiger sind. Rückschlüsse auf die Verbreitung von Bären im mitteleuropäischen Tiefland während der römischen Eisenzeit sind schwierig. Bemerkenswert ist jedoch, dass in Norddeutschland alle Nachweise aus dem fraglichen Zeitraum östlich einer Linie Flensburg – Hildesheim stammen. Vieles deutet darauf hin, dass Bären im Westen schon länger zumindest ausgesprochen selten waren.
Auch im Frühmittelalter finden wir in der Verteilung der Bärenreste in der norddeutschen Tiefebene eine deutliche Unterscheidung zwischen Nord und Süd, Ost und West. Während im Gebiet der Dänen, Franken und Sachsen nur eine einzige archäologische Ausgrabung (Haithabu) Bärenknochen erbracht hat, gibt es im slawischen Siedlungsraum 13 Nachweise. Rechnerisch erbringen damit im Westen etwa 2 Prozent der Ausgrabungsstellen Bärenreste, im Osten sind dies 30. Es ist höchst bemerkenswert, dass sich unter den Zehn- oder gar Hunderttausende von Tierresten auf frühmittelalterlichen Handels- und Marktplätzen oft kein einziger Beleg für einen Bären findet. Entweder waren Braunbären bereits aus dem ganz westlichen Teil des deutschen Tieflandes verschwunden, oder die Jagd auf Bären hatte für die Slawen eine besondere Bedeutung. Sicherlich kann beides zutreffen. Eine Konstanz von 30 Prozent ist der höchste Wert, der in Norddeutschland für eine Epoche oder Region berechnet werden kann, und allein diese Tatsache deutet auf einen besonderen sozialen Kontext des Bären oder eine besondere Funktion der Bärenjagd hin. Die Gründe für eine solche regelmäßige Bärenjagd in einer Gesellschaft können vom Viehschutz bis hin zu verschiedenen Arten von sozialen Ritualen reichen. Die Hintergründe des Phänomens konnten bis heute nicht beleuchtet werden, aber da die Bärenreste ausschließlich aus Siedlungskontexten und nicht aus Gräbern stammen, gibt es zumindest keine Hinweise auf die Bedeutung des Bären in Bestattungspraktiken. Diese Stätten gehörten zu den wichtigsten slawischen Befestigungsanlagen der damaligen Zeit und waren zugleich Adelssitze.
Das Verschwinden der Art erfolgte in Norddeutschland also sukzessive von West (wohl bereits im Neolithikum) nach Ost (Neuzeit). Es führte über schrumpfende zu fragmentierten Reliktpopulationen, zuerst lokal, später regional. Kleine Tierbestände ohne Kontakt zu Nachbarpopulationen sind überaus anfällig gegen Störungen, und besonders Raubtierarten mit geringer Fortpflanzungsrate sind dabei gefährdet. Oft braucht es dann nur die Zunahme eines negativen Faktors, um die gesamte Population in eine Situation zu bringen, in der ein Weiterbestand nicht mehr möglich ist.
Neben Landschaftsveränderungen beeinflussten auch die Zunahme der menschlichen Bevölkerung und später die Jagd mit Schusswaffen das Vorkommen von Braunbären in Norddeutschland sehr negativ. Beginnend mit der Christianisierung, vor allem dann im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit wurden Bären außerdem gezielt verteufelt, und ähnlich wie bei Wölfen gab es offizielle Anordnungen, sie als universelle Schädlinge zu töten. Es war schließlich das Ergebnis dieser intensiven Verfolgung, dass Bären auch ihr letztes Refugium im Westen der mitteleuropäischen Tiefebene, in Pommern, verloren. Als seltene Einzelgänger überlebten sie zumindest im Baltikum. Erst in den letzten Jahrzehnten ist in mehreren europäischen Regionen ein Comeback zu beobachten, teilweise gefördert durch Artenschutzprogramme. Sie sind das Ergebnis einer sich langsam erneut verändernden Haltung des Menschen gegenüber dem Bären. Diese im Vergleich zur frühen Neuzeit entspanntere Haltung hat sich in Skandinavien, Polen und Teilen des Baltikums schon weitgehend durchgesetzt, die deutsche Gesellschaft tut sich hier wesentlich schwerer.